Ahnen-Zeit Sie sind im Wald … wenn ich spazieren gehe, im herbstlichen Sonnenschein, staunend über die goldenen Blätter, wenn das Laub unter meinen Füßen raschelt und ich mich daran freue wie als Kind, wenn es von den Bäumen tropft und die Eicheln fallen, erst recht, wenn die Feuchte wie Nebel aufsteigt … dann wispern sie um mich.
Ich höre keine „echten“ Stimmen, ich sehe keine Bilder – doch sie umgeben mich, ich fühle und spüre es, ohne sagen zu können, wie und woran. Meine Ahn*innen sind da. Um mich. Mit mir. Und ich fühle mich wohl mit ihnen, getragen, gesegnet, gesehen.
Mein Gefühl:
Sie freuen sich an mir.
Sie möchten, dass ich weiter meinen Weg gehe, den Seelenweg, den, der mich glücklich macht und strahlen lässt, endlich.
Die meisten von ihnen konnten das nicht.
Und sie wünschen so sehr, dass ich es nicht nur kann, sondern tue. Wie wunder-voll ist das!
Ich kenne die wenigsten von ihnen. Meine Eltern, die Eltern meiner Mutter, die Mutter meines Vater, den Großvater meiner Mutter – die habe ich kennengelernt. Und habe ein Bild von ihnen. Wie begrenzt auch immer.
Die anderen … waren längst tot, als ich auf die Welt kam. Und doch wäre ich ohne sie nicht hier.
Mein Großvater väterlicherseits wusste nicht einmal, dass er einen Sohn hatte. Er zog im August 1914 als Einundzwanzigjähriger in den Krieg, frisch verheiratet, die Frau hochschwanger. Als mein Vater Ende August geboren wurde, war sein Vater in Frankreich, wo er wenig später „fiel“. Nach einem Monat an der Front. Das Bild, dass meine Oma ihm schickte, von ihr mit dem gemeinsamen Sohn, kam zurück, ohne dass er es je gesehen hatte.
Wie dankbar ist er, dass ich ihn „sehe“, dass es weiterging, obwohl er – ungern und ohne dass er bereit war – sein Leben verlassen musste. Ein Sohn, vier Enkelkinder – eins davon ich – das bringt ihn in Frieden: er wünscht seinen Nachkommen die Lebenslust, die ihn prägte und die nur so kurz leben durfte.
Meinen Urgroßvater mütterlicherseits habe ich noch kennengelernt, er war ein „lustiger Vogel“, mit einem Glasauge, mit dem er uns gern mal erschreckte, und einer geheimnisvollen Grube im Hof, mit großen Schätzen, von denen er uns gern erzählte. Wie ent-täuschend, dass es einfach die Sickergrube für das Plumpsklo war. Beides machte ihn in meinen Augen zu einem spannenden, wenn auch ein wenig unheimlichen Typ.
Seine Frau starb schon 1927 oder 28, kurz bevor meine Großmutter (ihre älteste Tochter) heiratete und meine Mutter 1929 geboren wurde. Sie – die Urgroßmutter – erlebte nicht mehr mit, wie sich die Zeiten so veränderten, dass ihr Mann ( Gärtner bei einem jüdischen Arzt, der ein kleines Heim für (jüdische) Menschen mit Beeinträchtigungen führte) arbeitslos wurde, der Arzt und die Bewohner „verschwanden“ und die Synagoge brannte.
Das wiederum erlebten meine Mutter und ihre Schwester hautnah mit. Mit 8 und 10 Jahren, in einer Wohnung nur 100 m Luftlinie von der Synagoge entfernt, hörte sie die Pöbeleien, das Scheppern der eingeworfenen Fenster und das Prasseln des Feuers. Sie mussten angezogen ins Bett – angezogen für den Fall des Falles, ins Bett, weil Kinder eben nicht alles mitbekommen sollen.
Und am nächsten Morgen rauchten die Trümmer, und gesagt wurde – nichts. Angst. Ohnmacht. Und Schweigen.
Genau wie darüber, was denn mit Peter, dem Sohn des o.g. Arztes passiert war, der irgendwann einfach weg war. Und wenn die Mädchen – eine Zeitlang noch – die jüdischen Bewohner des Heims trafen, mit einem gelben Stern, und stumm – „Ja, kennst du mich denn nicht mehr?!“ – dann wurde auch das mit Schweigen zugedeckt.
Und wieder Krieg. Meine Großeltern und mein Vater erlebten jeweils zwei Kriege, meine Mutter „nur“ einen. Den zweiten Weltkrieg überlebten sie (also meine vier Großeltern und meine Eltern), und doch starb etwas in ihnen.
Kriegsende, Schuld und Schuldgefühle, wieder Schweigen, als nach und nach das Ausmaß der Verbrechen und des Holocaust deutlich wurde. Ein geteiltes Deutschland. Meine Mutter, mit 18, im Westen, die Eltern und Geschwister im Osten, nach der Währungsreform gabs kein -Geld von Zuhause mehr, und die Ausbildung war noch nicht abgeschlossen.
Mein Vater, zunächst begeisterter Soldat, ganz wie sein Vater im 1. Weltkrieg, erlebte die Abenteuer, um derentwillen er in den Krieg gezogen war – Afrika, Griechenland, Kreta, am Ende Russland. Er erzählte später eher von den schönen kulturellen Stätten wie der Akropolis, manchmal von dem Flugzeugabschuss, als der Fallschirm erst sehr spät aufging und sein ganzes Leben an ihm vorüberzog. Einmal sagte er auch „im Krieg tut man Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte“, was mich sehr erschüttert hat. Doch nachzufragen kam irgendwie nicht in Frage.
(Meine Schwester reiste später auf Kreta und suchte die Spuren der Wehrmacht … Ich fühlte Schuld. Scham. Dankbarkeit, dass wir es nicht waren.)
Erst 1950 kam er aus russischer Gefangenschaft; mein Vater, der Schreiberling, hatte 5 Jahre in einem Bergwerk verbracht. Immerhin überlebte er, anders als viele andere.
1956 heirateten meine Eltern, wir Kinder wurden 1957, 58, 60 und 63 geboren.
Wir wuchsen „fromm“ auf, mein Vater hatte wohl das Gefühl, einiges wiedergutmachen zu sollen, meine Mutter kam aus einer pietistischen Familie und kannte es nicht anders.
So lernten wir nur die Ahnen kennen, die noch da waren, und gleichzeitig einen „guten Gott“, der zwar eindeutig Männer als seine Freunde bevorzugte, doch auch mit braven Frauen freundlich war.
Tja, und so war ich lieb. (Nicht nur, doch ziemlich oft.)
Und jetzt gehe ich durch den Wald und meine Ahn*innen – die, die ich gekannt habe und ganz, ganz viele andere, durch die Jahrhunderte und Jahrtausende - singen ein anderes Lied, eins von wilder Weiblichkeit, ekstatischen Trommeln und Tänzen ums Feuern, von Frauenkreisen, in denen weibliche Macht und Kraft weitergegeben wurde. Von Frauen und Männern, die ihren Seelenweg gehen durften, weil das wichtig war für die Menschen und die Erde. Lange ist es her.
Und sie singen auch von Männern und Frauen, die ihre wahre Natur verleugnen mussten, um einem Bild zu entsprechen, das menschengemacht und für gottgewollt erklärt wurde. Von Krieg und Vergewaltigung, gegen das Leben, die Natur, die Erde, die Frauen, die Männer, und immer auch die Kinder. Bis heute.
November. Ahnen-Zeit.
Sie wünschen sich so, dass ich – dass wir – wieder wild und weise, (natur-) verbunden und voller Liebe (ins Leben) sein können.
Ja, ich will. Das ist mein Dank?
Ich bin bereit. Bereit für meine Kraft, meine Freude, mein Leben.
Und so bringe ich das Flüstern und Wispern meiner Ahn*innen zu Papier.
Webe es ein in mein Leben, meine Spaziergänge, meine Träume.
Für die, die kommen.