Sichtbar werden – eins meiner „Ziele“ für dieses Jahr. (Habe ich auch von manch anderer so gehört.)
Eine gute Idee – und es gelingt auch immer wieder.
Doch sichtbar werden mit etwas, von dem ich weiß, dass es einem anderen weh tut – da wird es schwierig.
Kann ich das? Darf ich das?
Sofort springen die alten Programme an, wie „lieb sein“, „ein guter Mensch sein“, „nicht auf Kosten anderer“.
Da ist mein schlechtes Gewissen gleich auf dem Plan.
Plötzlich bin ich 2 Jahre alt, will mein Spielzeug nicht abgeben, sondern selbst und für mich behalten - und weiß gleichzeitig, ich will doch gut sein, damit Mami mich liebhat.
Dieses Muster ist überholt, oder?
Offenbar nicht immer, nicht in jeder Situation.
Der Satz „Ich verabschiede das Bedürfnis, ein guter Mensch zu sein“ ist keiner, den ich ganz locker sprechen kann, schon gar nicht, wenn er auf Kosten eines/einer anderen geht.
„Das Bedürfnis, ein guter Mensch zu sein“ - was für eine Hypothek!
Bei mir hängt er mit meiner christlichen Sozialisation zusammen.
Und, natürlich, als Älteste von vier Kindern „musste“ ich halt nachgeben / vernünftig / verantwortlich sein.
„Die Klügere gibt nach!“ wie oft habe ich das gehört (nicht nur ich, dennoch…).
Ja, das sind alte Muster, die nicht mehr gelten müssen. Jetzt entscheide ich selbst (oft jedenfalls). Keine alten Geschichten mehr – dafür darf mein Herz mich führen. Sehr gut. - - -
Ich habe noch einmal nachgedacht.
Über das Bedürfnis, ein guter Mensch zu sein.
Das ist ja nichts Schlechtes.
Es engt nur meinen Handlungsspielraum ein.
Und fragt nicht mein Herz, sondern einen Maßstab, der nicht von mir, sondern von anderen - die etwas für sich oder noch andere wollen - gesetzt wird.
Vom Patriarchat zum Beispiel.
Oder dem, was für Eltern gerade am wenigsten anstrengend ist (oder für Lehrerinnen oder so).
Und bezieht sich zuerst natürlich nicht auf einen erwachsenen Menschen, sondern auf ein (zu erziehendes!) Kind. Das ein gutes Kind sein muss, wenn es ein guter Mensch (später mal, noch ist es ja eh imperfekt, weil ein Kind) werden will. Auch, wenn es einfach „nur“ dazugehören und geliebt werden will.
Was für ein Konstrukt!
So ein gutes Kind ist (war, hoffe ich für alle Kinder!) lieb, freundlich, gibt nach, streitet nicht, lernt fleißig, teilt Spielsachen und Futter. Und haut natürlich keinen, sondern kümmert sich - vorzugsweise um die Kleineren, Schwächeren.
Versteckt die eigene Stärke meistens um keinen zu erschrecken oder so.
Ist eben gut.
Das ist zwar unerreichbar, doch viele, viel zu viele, Kinder versuchen es.
Verhalten sich angepasst, angepasst an das, was für die Bezugsperson - wer auch immer sie gerade ist -, gut und richtig ist.
Manchmal muss es raten, weil das ja wechselt mit den Umständen und den Personen.
So wird das gute Kind auch einfühlsam. Außer in Bezug auf sich selbst.
Doch irgendwann vielleicht sehr, sehr viel später wacht das erwachsene „gute Kind“ auf und spürt, dass viele der „guten“ Entscheidungen gar nicht seine eigenen waren.
Keine Herzensentscheidungen, aus denen die Seele sprach.
Sondern eine Konditionierung, auch gespeist aus der Angst vor Liebesentzug und nicht gut sein.
Das tut weh in unterschiedlichster Hinsicht.
Sehr alter Schmerz kommt hoch, vielleicht auch über verschenkte Möglichkeiten.
Ja.
Und doch tut er gut, der Schmerz, darf gefühlt werden und verabschiedet.
Das „gute“ Kind entscheidet jetzt selbst. Nicht nach gut oder böse, das spielt keine Rolle mehr.
Denn das ist eine unsinnige Kategorie.
Eine Kategorie, die immer hinterfragt werden will danach, durch wen und zu wessen Nutzen hier ein „gut“ definiert wird.
Die Erwachsene befragt ihr Herz, wenn sie entscheidet.
Anfangs ist das gar nicht so leicht, weil so viele andere konditionierte Stimmen mitreden.
Sie lernt ein paar Techniken.
Wie fühlt es sich im Körper an?
Sie findet Freund*innen, die sie erinnern, auch hinterfragen.
Und sie lernt sich und ihr Herz besser kennen.
Sie fürchtet falsche Entscheidungen weniger, denn die gibt es nicht.
Sie lernt und übt und lebt und liebt und weint und lacht.
Und hört ihr Herz immer besser.
Und macht Schritt um Schritt in ein neues Leben.
Oder so ähnlich.
„Ich verabschiede mich davon, ein guter Mensch (eine gute Frau) zu sein“.
Ja, das ist ein einschneidender Satz. Will ich den wirklich loslassen?
Jedenfalls ist es ein Satz, den ich aller Voraussicht nach immer wieder neu loslassen muss.
Also ein Satz zum Üben. Denn: Ich bin eine Meisterin, die übt.
Auch das.
Ja. Und dann kann ich - immer wieder und immer öfter - aus freiem Herzen entscheiden … Wow!